Ulrich Kirchgässner ist ein „Elternkläger“ der ersten Stunde. Der Pädagoge aus Freiburg und seine Frau Walburga zählen zu den drei Musterfamilien, die 2006 gegen die Benachteiligung von Familien in den Sozialversicherungen Beschwerde einlegten. Jetzt, zehn Jahre später, ist ihre Klage vor dem Bundessozialgericht angekommen und wird am 15. September verhandelt. Wir sprachen mit Ulrich Kirchgässner über seine Erfahrungen, seine Motivation und seinen Rat für Familien, die „Elternklagen“ unterstützen.
Herr Kirchgässer, vor zehn Jahren legten Sie Beschwerde gegen die Benachteiligung von Familien in den Sozialversicherungen ein und zogen vor Gericht. Wie kam es dazu?
Im Jahr 2001 wurde ich zum Vorsitzenden des Familienbundes der Katholiken in der Erzdiözese Freiburg gewählt. Für den Familienbund war schon vor meinem Amtsantritt Beitragsgerechtigkeit für Familien in den Sozialversicherungen ein großes Thema. So haben wir uns damals sehr über das Pflegeversicherungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes gefreut, in dem es die Politik verpflichtete, Eltern bei den Beiträgen für die Pflegeversicherung zu entlasten Aber als wir sahen, wie dürftig die Politik die Vorgaben des Gerichtes umsetzte, waren wir schon enttäuscht. Wir beschlossen dann im Familienbund Freiburg, mit drei Familien Musterklagen zu führen, um auf diesem Weg Beitragsgerechtigkeit auch für die anderen Sozialversicherungen einzufordern. 2006 war es soweit: wir beantragten bei unseren Krankenkassen eine Reduzierung unserer Sozialversicherungsbeiträge. Nach Ablehnung, Widerspruch unsererseits und Ablehnung des Widerspruchs war der Weg frei für die Klagen: Erst vor dem Sozialgericht Freiburg, 2012 dann vor dem Landessozialgericht in Stuttgart und seit 2015 vor dem Bundessozialgericht.
Das Thema „Beitragsgerechtigkeit in den Sozialversicherungen“ ist ja recht kompliziert. War es schwierig für Sie, die Klage zu erheben?
Nein. Wir hatten uns im Familienbund ja schon lange mit dem Thema auseinandergesetzt. Es gab und gibt viel Sachverstand im Familienbund und auch im Deutschen Familienverband. Außerdem haben wir fachkundigen Beistand vom Sozialrechtsexperten Dr. Jürgen Borchert. Mit ihm stehen wir in Kontakt, seitdem er 1992 als Sachverständiger des Bundesverfassungsgerichtes im Trümmerfrauenurteil gehört worden war. Für uns Familien selbst war es also überhaupt nicht schwierig.
Sie haben die Klage als Eheleute Ulrich und Walburga Kirchgässner eingelegt. Wie haben Ihre Frau und Ihre Kinder reagiert, als Sie mit der Idee für die Musterklage auf sie zu kamen?
Meine Frau stand von Anfang an hinter der Sache und hat sie unterstützt. Unsere Kinder waren damals noch zu klein, um den Inhalt zu verstehen. Aber bei der Verhandlung am 15.9. wird unser jüngerer Sohn, der heute 20 Jahre alt ist, dabei sein. Das interessiert ihn. Schwieriger war es eher, unseren Arbeitgebern die Klage zu vermitteln. Diese werden ja zu den Verhandlungsterminen auch beigeladen, insofern betraf es sie auch. Doch schließlich haben sie es akzeptiert, zumal sie ja auch kein Risiko eingehen.
Sind Sie auch schon selbst vor Gericht erschienen?
Ja, vor dem Sozialgericht Freiburg und dem Landessozialgericht Stuttgart. Bei der Verhandlung vor dem Bundessozialgericht am 15. September bin ich leider verhindert, aber meine Frau und mein Sohn werden dabei sein.
Sie sind nun schon durch einige Instanzen gegangen. Welche Erfahrungen haben Sie im Umgang mit Gerichten gemacht?
Ich hatte vorher noch nie etwas mit Gerichten zu tun. Insofern war unsere erste Verhandlung vor dem Sozialgericht in Freiburg 2006 eine neue Erfahrung. Plötzlich steht man vor den Richtern und legt seine persönlichen Daten und Hintergründe offen. Aber wir fühlten uns immer gut von den Anwälten und dem Familienbund unterstützt. In den Verhandlungen haben die Anwälte für uns gesprochen.
Erstaunt bin ich aber über die Art und Weise, wie Recht gesprochen wird. Es sieht so aus, als fahren die Gerichte eine einheitliche Linie, die möglichst vermeiden soll, mit dem eigenen Urteil weitreichende politische Konsequenzen auszulösen. In Freiburg und Stuttgart hatte ich schon den Eindruck, dass die Richter ihr Urteil so sprachen, dass sie danach möglichst nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Die nächste Instanz soll entscheiden. Sie bewegten sich innerhalb vorgegebener Bahnen, die nicht mit Risiko behaftet sind. Auch das Bundessozialgericht ist so verfahren.
Wie informieren Sie sich über das laufende Verfahren?
Die Website www.elternklagen.de ist eine gute Info-Plattform. Dann werde ich natürlich vom Familienbund und Dr. Borchert informiert, wenn es etwas Neues gibt. Auch halte ich mich selbst auf dem Laufenden. Es ist auch hilfreich, dass neben dem Familienbund, der initiativ in dieser Klage war, nun auch der Deutsche Familienverband das Thema aufgegriffen hat. Es steht nun auf einer breiteren Basis.
Zehn Jahre Klage sind eine lange Strecke. Was spornt Sie an?
Zum einen stört es mich, dass in der Öffentlichkeit oft der Eindruck erweckt wird, Familien würden großartig unterstützt. Denn wenn man genau hinschaut, schrumpft die vermeintliche Familienförderung zusammen und stattdessen werden Ungerechtigkeiten sichtbar. Zum Beispiel die Benachteiligung in der Sozialversicherung. Die Klage ist für mich eine Möglichkeit, einen Weg zu beschreiten, der Erfolg verspricht. Schon mehrmals wurden familienpolitische Veränderung und Verbesserungen vom Bundesverfassungsgericht angestoßen. Ich wollte also weg von der Haltung „das passiert uns halt“ und etwas tun. Und: ich möchte mit falschen Vorstellungen über die Höhe der Familienförderung in Deutschland aufräumen. Es sind nämlich nicht, wie oft behauptet wird, 200 Milliarden Euro, die der Staat über den Familien ausschüttet. Wenn man genau hinschaut, erfahren Familien nur wenig tatsächliche Förderung.
Dachten Sie auch mal daran, aufzugeben?
Nein. Wir haben als Familie die Klage stets mit Spannung verfolgt, aber sie war nie belastend für uns. Inzwischen hat sich zwar unsere Ausgangslage verändert, da unsere Kinder erwachsen geworden sind. Aber die Grundproblematik bleibt ja erhalten. Und wir wollen das Projekt zu Ende führen. Vielleicht profitieren ja unsere Kinder einmal davon, wenn sie selbst Familie haben.
Am 15.9.16 geht die Elternklage vor dem Bundesozialgericht in die nächste Runde. Was erwarten Sie von der Verhandlung in Kassel?
Eine Entscheidung vielleicht? Aber das Verfahren ist ja gerade mal zehn Jahre alt… Im Ernst: ich erwarte, dass das Bundessozialgericht der eigenen Argumentationslinie wieder folgt und die Klage entweder abweist oder an das Verfassungsgericht weitergibt.
Es hat uns schon sehr erstaunt, dass das Bundessozialgericht in der Verhandlung Familie Essig am 30.9.2015 Argumente ins Feld geführt hat, die wenig nachvollziehbar waren. Da war zum Beispiel die merkwürdige Aufrechnung der Kosten der über 65-jährigen Menschen mit denen der Jüngeren in der Krankenversicherung. Es taten sich überraschende Sichtweisen auf mit der Zielsetzung, kein Urteil zu sprechen, das politische Auswirkungen hat. Alles soll so bleiben wie es ist.
Zurzeit klagen Eltern vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Konstruktion des Pflegefonds. Auch Ihr Verfahren wird wahrscheinlich einmal vor dem Verfassungsgericht landen. Was denken Sie, wie das höchste deutsche Gericht entscheiden wird?
Ich hoffe, dass das Bundesverfassungsgericht mutig entscheiden wird und Beitragsgerechtigkeit für Familien verbindlich einfordert. Es wird hoffentlich die Politik verpflichten, Beitragsgerechtigkeit für die anderen Sozialversicherungen einzuführen. Am wahrscheinlichsten erscheint mir das für die Rentenversicherung.
Danach wird die Politik mit Hochdruck daran arbeiten, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in einem Minimalstandard umzusetzen. Auch beim Pflegeversicherungsurteil wurde ja formal der Vorgabe des Gerichtes gefolgt, dann aber nur eine kleinstmögliche Veränderungen tatsächlich umgesetzt. Entgegen solcher Erfahrungen hoffe ich, dass es diesmal anders ausgeht.
Welchen Rat haben Sie für Familien der Aktion Elternklagen, die gerade vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingelegt haben?
In Diskussionen gerade im Bekanntenkreis sachlich den eigenen Standpunkt zu vertreten, ohne polemisch zu werden. Man sollte die Dinge sehen, wie sie sind und daraus Konsequenzen ziehen. Es geht nicht darum, andere zu diskriminieren oder Lebensentwürfe abzuwerten. Sondern darum, gemeinsam familiengerechte Lösungen zu finden.
Das Interview führte Claudia Hagen